Ballade des Herzens

Damit Ihr einen kleinen Einblick in diesen Roman bekommt, gibt es hier die ersten Seiten zu lesen, ungefähr die Hälfte des ersten Kapitels.
Ich empfehle „Ballade des Herzens“ für Jugendliche und junge Erwachsene ab 14. Die meisten Lesungen damit hatte ich in siebten, achten und neunten Klassen.

Das Cover war übrigens ein ganz besonderes Projekt, verbunden mit einem sehr lustigen Nachmittag. Herzlichen Dank an die großartigen Models Carina & Willi. Und natürlich ein ganz besonderes Dankeschön an Andreas, den Mann hinter der Kamera und den Designer dieses großartigen Covers.

Viel Spaß beim Lesen!


Vorwort

Woher soll man denn wissen, was gut oder schlecht und was wahr oder falsch ist? Jeder hat Geheimnisse, die er vor anderen verbergen will oder sogar muss. Und dadurch wird die Suche nach der Wahrheit zu einer echten Gratwanderung.

Kapitel 1: Ein berührendes Lied

Reglos saß ich auf dem breiten Fensterbrett und starrte hinaus, ohne wirklich etwas zu sehen. Alles um mich herum erschien mir trüb und düster, obwohl heute ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch war. Die Sonne strahlte, keine Wolke zeigte sich am blauen Himmel, einige Vögel sangen und draußen im Garten, der genau in meinem Blickfeld lag, blühten Blumen in den verschiedensten Farben.

Ich seufzte leise und wandte mich von der Idylle ab, blieb jedoch weiter auf der Fensterbank sitzen. Ich hatte einfach nicht die Kraft, mich jetzt zu erheben. Das Ereignis vor vier Tagen lähmte mich heute noch.

Ich wusste, dass ich mich nicht so hängen lassen sollte. Auch wenn es wehtat, es war kein Weltuntergang. Aber trotzdem konnte ich mich nicht dazu aufraffen, aufzustehen und das Chaos in meinem Zimmer aufzuräumen. Oder mal wieder was anderes zu essen als die Pizza vom Lieferservice. Ich war seit vier Tagen zu nichts zu gebrauchen. Weil ich es einfach nicht fassen konnte! Weil ich es nicht wahrhaben wollte.

Was brachte es einem, sehr wohlhabende, einflussreiche Eltern zu haben und sich jeden Wunsch erfüllen zu können, wenn man nicht mal die alltäglichsten Dinge kontrollieren konnte?

Schön, ich wohnte in einem der exklusivsten Viertel von Nürnberg, in einer Villa mit über zwanzig großen Zimmern, einem weitläufigen Garten und fünf Angestellten. Da meine Eltern meistens geschäftlich unterwegs waren, hatte ich das Haus auch oft für mich allein und konnte tun und lassen, was ich wollte. Ich durfte sogar jederzeit mit meinen Kumpels feiern – seit ich vor drei Jahren die Schule abgeschlossen und das Abitur irgendwie bestanden hatte, war mein Leben eine einzige Party. Es gab ja keinen Grund zu arbeiten, so viel Geld ich auf dem Konto und in den Taschen hatte.

Diesen Herbst würde ich, wie mit meinen Eltern ausgemacht, ins Familienunternehmen einsteigen, und bis dahin hatte ich alle Zeit der Welt. Vor allem hatte ich die finanzielle Möglichkeit, meine Freizeit zu gestalten, wie ich wollte.

Und dennoch hatte sie mich einfach so …!

Ich wollte gar nicht mehr daran denken, doch es gelang mir nicht, ihre letzten Worte an mich auszublenden.

„Julian, ich hab dich echt gern und alles, aber das mit uns beiden hat keinen Sinn mehr. Das siehst du doch sicher auch ein, nicht wahr? Aber ich würde gern mit dir befreundet bleiben.“

Das durfte ich mir nach einem halben Jahr anhören. Mandy hatte mich eiskalt abserviert, nachdem ich ihr wirklich jeden Wunsch erfüllt hatte. Für einen anderen Kerl, einen Bekannten von mir, wie ich kurz darauf über Facebook erfahren hatte. Und das war der nächste Schlag in mein Gesicht gewesen.

Aber anstatt sie zu hassen, musste ich ihr ja nachtrauern. Ich kam nicht von ihr los, ich hing an ihr und ja, zugegeben, ich liebte sie immer noch. Leider.

Wirklich wütend war ich nur auf diesen verfluchten Dennis. Neureiches Ekel, biederte sich erst an und spannte einem dann die Freundin aus. Wenn ich den Kerl demnächst treffen sollte, was recht wahrscheinlich war, da er wie viele andere wohlhabendere Leute der Stadt irgendwo hier in Erlenstegen wohnte, könnte ich für nichts garantieren. Und nachdem man über fünf Jahre lang regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen war und Krafttraining gemacht hatte, stellte es kein Problem dar, so einem dahergelaufenen Dennis die Nase zu brechen. Zumal dieses Weichei nur Pudding in den Armen hatte und keine Muskeln. Was konnte ein so hübsches Mädchen wie Mandy nur an diesem weichlichen Typ finden?

Wieder mal blieb mein Blick an dem Bilderrahmen auf meinem Nachtschrank, neben dem zerwühlten Bett, hängen. Das Foto hatten Mandy und ich vor zwei Monaten aufgenommen, es zeigte uns beide draußen in meinem Garten. Mandy, mit ihrem strahlenden Lächeln und den dunklen Augen, wie sie sich durch ihre wunderschönen glatten, schwarz gefärbten Haare fuhr, und mich, der ihr einen Arm um die Schultern legte.

Verdammt, die erste Frau, die mir so viel bedeutete, hatte mich einfach so, aus heiterem Himmel, abgeschossen. Sie war keiner meiner vielen One-Night-Stands gewesen, keine kurze Affäre, nein, im Gegenteil.

Und während sie sich mit ihrem tollen Dennis vergnügte, saß ich den ganzen Tag in meinem Zimmer und starrte Löcher in die Luft oder aß billige Pizza. Auf die Anrufe meiner Freunde hatte ich in den letzten Tagen nicht reagiert, ich ließ ja nicht mal unsere Haushälterin herein, damit sie mein Bett machen oder das Zimmer putzen konnte.

Nur gut, dass meine Eltern seit letzter Woche geschäftlich in Südamerika waren. Sie hatten bloß noch irgendetwas von einem neuen Erdölvorkommen und wichtigen Verhandlungen gemurmelt, dann waren sie aufgebrochen, um das Treibstoffimperium Römer – unser Imperium – weiter auszubauen. Erst Anfang Juli wollten sie zurück nach Hause kommen. Bis dahin hatte ich mich hoffentlich wieder gefasst. Oder Mandy zurückgewonnen.

Seit gestern spielte ich mit dem Gedanken, wieder mit meiner Exfreundin zusammenzukommen. Nur wie? Ob ich sie anrufen oder mich mit ihr treffen sollte? Vielleicht konnte sie mir ja erklären, was sie an dieser Memme so anziehend fand. Denn ich verstand es einfach nicht.

Gerade als ich mein Smartphone aus der Hosentasche ziehen und sie anrufen wollte, hörte ich von draußen eine helle Stimme, die gedämpft zu mir vordrang. Es klang so, als würde jemand singen. Da mich die Neugier packte, stand ich auf und öffnete das Fenster, um besser zu hören.

„Feeling numb, still want to cry,
Why do I have to say goodbye?
Why won’t the pain vanish, why won’t the fear?
Why does it get harder tear by tear?
You’re gone, so I am left alone,
Don’t know how to go on,
Don’t know how to live while you don’t.
Can’t you come back or take me with you?
How many days will I have to pass through?
I’m broken, I’m lost, so how can I go on?
Without you I just don’t know how to be strong.”

Diese Stimme erschütterte mich, nicht nur weil sie so unglaublich schön klang. Es lag so viel Trauer in diesem Lied, so viel Verzweiflung, dass ich wie erstarrt vor dem Fenster stand und mich nicht rühren konnte.

Ich kannte das Lied nicht, doch ich beherrschte genug Englisch, um zu verstehen, worum es ging. Die Sängerin kam nicht mit dem Tod einer ihr nahestehenden Person klar, so interpretierte ich es zumindest.

Weil ich wissen wollte, wer das eben gesungen hatte, sah ich mich um. Ich rechnete allerdings nicht damit, jemanden zu entdecken, in meinem Blickfeld lagen schließlich nur mein Garten und der angrenzende Garten des Hauses auf der nächsten Querstraße. Das Haus dort hinten stand leer, vor ein paar Tagen war das Ehepaar, das dort gelebt hatte, gestorben. Meine Familie hatte nie viel mit ihnen zu tun gehabt, ich wusste nur, dass den beiden ein großer Konzern gehört hatte, Holz, Metall, irgendwas in der Art. Außerdem hatten sie allein gelebt.

Dennoch schaute ich umher, über die Hecken und Blumen in unserem Garten, über den Rasen, die Grenze zum anderen Anwesen und die Bäume, die dort standen. Moment mal … Verdutzt rieb ich mir die Augen und blickte noch mal genauer hin. Tatsächlich, auf einem der Bäume an der Grundstücksgrenze, mitten im Geäst, saß jemand!

In der Entfernung konnte ich nicht genau erkennen, wer da hockte. Doch ich war mir sicher, dass es sich um die Sängerin von eben handelte.

„Hey, was machst du in meinem Garten?“, rief ich ihr durch das offene Fenster zu.

Abrupt drehte sich das Mädchen zu mir um. Ich sah es nicht besonders gut, doch ich glaubte, dass es nicht sehr alt sein konnte. Achtzehn vielleicht. Auf jeden Fall jünger als ich.

„Was heißt hier dein Garten?!“

Eindeutig dieselbe Stimme – das war die Sängerin. Doch mir passte nicht, dass sie meinen Besitz, beziehungsweise den Besitz meiner Familie, anzweifelte.

„Der Baum gehört zu meinem Grundstück! Mach, dass du da weg kommst!“, fuhr ich sie an.

„Du kannst mich mal! Ich wohne hier, warum sollte ich mir von irgendeinem dummen Schnösel was sagen lassen? Du suchst wohl Streit, was?“

Mir klappte der Mund auf; so hatte es noch niemand gewagt, mit mir zu reden.

„Wie du willst!“, entgegnete ich wütend. „Dann komme ich zu dir und pflücke dich von dem Baum runter!“

„Versuch’s doch!“, zischte sie.

„Du hast ungefähr zwei Minuten, um von selbst zu verschwinden! Dann bin ich die Treppe runter und in den Garten gelaufen“, drohte ich ihr.

Immerhin befand ich mich im ersten Stock; es dauerte eine kurze Zeit, runter ins Erdgeschoss und raus in den Garten zu kommen. Die Gänge dieser alten Villa waren lang und die große Wendeltreppe zog sich hin.

Ohne auf ihre Antwort zu warten, wandte ich mich ab und lief zur Zimmertür. Von so einer Rotznase ließ ich mich doch nicht vorführen! Was sollte diese Frechheit, von wegen, sie würde hier wohnen? Im Haus auf der nächsten Querstraße war niemand neu eingezogen und die Kleine wohnte auch sicher nicht hier, ich kannte die Leute aus der Umgebung schließlich. Hier lebten nur wohlhabende Familien, nicht solche verzogenen Gören.

Bevor ich jedoch das Erdgeschoss erreichte, kamen mir noch auf der Treppe drei bekannte Gesichter entgegen.

„Juli! Wahnsinn, du bewegst dich und bläst keinen Trübsal mehr!“

Überrascht sah ich meinen besten Kumpel an; Simon stand vor mir und grinste, wobei er dank seiner zwar relativ kurzen, aber sehr wirren braunen Locken wie ein verrückter Erfinder aussah. „Was macht ihr denn hier?“, fragte ich verdutzt.

Fabian, auch einer meiner Freunde, deutete auf Simon. „Seine Idee.“

Prüfend blickte ich meinem besten Kumpel direkt in die Augen. „Warum?“

Simon zuckte mit den Schultern. „So halt.“

Ich runzelte die Stirn. „Wie seid ihr überhaupt reingekommen?“

„Das Hausmädchen hat uns aufgemacht“, erklärte er.

Ach, richtig, darauf hätte ich auch kommen können.

„Du solltest dich echt nicht so abkapseln“, tadelte mich Fabian und schüttelte den Kopf, wobei sein dunkler Pferdeschwanz von einer zur anderen Seite flog. Es gab nicht viele Kerle, die mit langen glatten Haaren nicht vollkommen lächerlich aussahen, doch Fabian gehörte zu den wenigen Glücklichen.

Vorwurfsvoll sah ich ihn an, doch ich erwiderte nichts. Irgendwie hatte er ja recht. Vielleicht.

„Darum haben wir beschlossen, dich heute zu überfallen und mit dir mal wieder wegzugehen“, erzählte Benedikt, der Dritte im Bunde. Unser Blondschopf.

Simon nickte eifrig. „Jetzt wo wir sowieso schon alle da sind, sollten wir heute Abend echt was unternehmen.“

„Und woran habt ihr gedacht?“, gab ich mich geschlagen.

„Ich bin für die übliche kleine Bar in der Innenstadt!“, rief Fabian sofort.

„Super Idee, da treffen sich nicht die ganzen Asozialen, die sich nur volllaufen lassen“, stimmte Simon ihm zu.

In der Bar hingen wir öfter rum, nur den Namen vergaßen wir ständig. Es war ganz schön dort, es gab sogar eine Bühne, auf der immer ein unterhaltsames Programm geboten wurde. Einmal im Monat wurde eine Art Karaoke-Abend veranstaltet, dann durfte das Publikum mal ins Rampenlicht. Ich konnte zwar singen – immerhin hatte mir vor allem meine Musiknote das Abitur gerettet –, doch bei so was schaute und hörte ich lieber zu. Mandy hatte dort auch schon ab und zu gesungen, als wir zusammen da gewesen waren … Schnell verdrängte ich den Gedanken wieder.

Unschlüssig sah ich die anderen an. „Ich weiß nicht …“

„Hab dich nicht so!“, ermahnte mich Fabian.

„Ja, ja, von mir aus, wir können schon hingehen“, antwortete ich widerwillig und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. „Aber es ist erst vier, vor zehn brauchen wir da nicht aufzukreuzen.“

Simon musterte mich skeptisch. „Die Zeit werden wir brauchen. Zuerst gehst du duschen, dann suchen wir dir saubere Klamotten.“

Ich verdrehte die Augen; klar, ich sah etwas fertig aus und hatte mich in den letzten Tagen ziemlich gehen lassen. Aber das wollte ich nicht von anderen hören. Wobei ich Simon für seine direkte Art ehrlich gesagt schätzte. Er war nicht umsonst mein bester Kumpel.

Bevor ich noch etwas sagen konnte, schob mich Benedikt die Treppe hoch.

„Alter, Ben, was soll der Mist?“

„Wir zwingen dich jetzt zum Duschen“, lachte er.

Unwillkürlich musste ich lächeln. Es tat echt gut, nicht mehr allein zu sein und auf andere Gedanken zu kommen.

Simon boxte mir gegen den Oberarm. „Gib’s ruhig zu, du freust dich, dass wir da sind.“

Ich grinste. „Kein bisschen.“

„Ach, tu doch nicht so“, maulte Fabian.

„Du kennst ihn doch, harte Schale, weicher Kern“, zog Benedikt mich auf.

Ich merkte, wie ich rot wurde. „Hört auf mit dem Schwachsinn!“

„Na gut, aber dann geh endlich duschen. Du siehst übel aus. Und du stinkst“, sagte Simon angewidert.

„Nicht gleich so freundlich“, brummte ich.

„Hast du in den letzten Tagen das Haus überhaupt mal verlassen?“

„Hm, nicht so wirklich“, gab ich zu.

Simon sah mich missbilligend an. „Dachte ich mir doch.“

„Egal, du gehst da jetzt rein“, befahl Benedikt und schubste mich in mein privates Bad, gleich gegenüber meines Zimmers.

Ich konnte nicht mehr reagieren, so schnell hatten die drei von außen die Tür verschlossen und mich somit eingesperrt. „Hey, ich hab keine frischen Klamotten hier drin!“, rief ich.

„Die suchen wir dir raus“, beruhigte mich Simon. „Wasch dich erst mal.“

Das nannte man wohl Zwangsreinigung …

Ich beugte mich dem Willen meiner Freunde, zumal sie recht hatten. Nur im Zimmer zu sitzen und nichts zu tun, löste mein Problem auch nicht.

Spätestens nach dem Blick in den Spiegel wurde mir klar, warum ich mich nicht mehr so gehen lassen sollte. Mein T-Shirt war schmutzig, meine Dreiviertelhose ebenso, mein kurzes dunkelblondes Haar ungepflegt und meine Bartstoppeln nicht rasiert. Ich sah nicht mehr aus wie einundzwanzig, sondern eher wie Mitte vierzig. Besonders meine dunkelbraunen Augen schockierten mich, weil sie so trüb und matt wirkten. So ging das echt nicht weiter. Wenn ich so nachlässig aussah, käme Mandy sicher nicht zu mir zurück.

Also warf ich meine dreckigen Klamotten in den Wäschekorb und duschte mich gründlich. Danach fühlte ich mich schon unendlich viel besser und sauberer.

Ich griff nach meinem Rasierer und beseitigte die letzte Spur meines geradezu peinlichen Durchhängers. Als ich danach in den Spiegel blickte, war ich richtig zufrieden. Ich sah wieder aus wie ein Mensch.

„Hey, Leute, ich bin fertig“, rief ich durch die Badezimmertür. „Bekomm ich jetzt frische Klamotten?“

„Eine Sekunde“, trällerte Simon und schloss die Tür auf, um mir einen Satz Wäsche durch den Türspalt zu reichen.

Ich nahm die Klamotten entgegen und musterte sie unzufrieden. „Glaub nicht, dass ich das T-Shirt anziehe“, beschwerte ich mich. „Gib mir ein dunkles!“

„Eitel wie immer“, merkte er lachend an und reichte ein dunkelblaues Shirt durch die Tür, das weitaus besser zu den Shorts passte, die er mir schon gegeben hatte.

Ich gab ihm das andere Oberteil nach draußen. „Danke.“

„Kein Ding“, antwortete er und machte die Tür wieder zu.

Als ich angezogen war und meine Haare mit etwas Haargel aufgestellt hatte, verließ ich das Badezimmer.

„Viel besser, so kenn ich meinen Juli“, neckte mich Simon.

Ich grinste schief. „Vergiss einfach, wie schlimm ich vorher aussah.“

„Okay, wir haben noch über fünf Stunden Zeit“, merkte Benedikt an. „Was wollen wir bis dahin machen?“

„Mir egal, ich hab eh nichts vor“, entgegnete ich.

„Gehen wir raus?“, schlug Simon vor. „Damit Juli mal wieder was anderes sieht als das Innere seiner Villa.“

Ich lachte. „Wir können ja in deine Villa gehen.“

„Oder in meine“, warf Fabian ein.

„Oder in mein Loft“, schlug Benedikt vor.

Wir hatten alle einen ähnlichen Humor und Familienhintergrund. Unsere Eltern waren Unternehmer aus dieser Gegend, daher kannten wir uns schon lange.

„Ich finde eher, Juli gehört an die frische Luft“, warf Simon ein.

„Stimmt“, pflichtete Benedikt ihm bei. „Wo wolltest du eigentlich gerade hin, als wir gekommen sind?“

Meine Augen weiteten sich – das Mädchen draußen! Das hatte ich jetzt völlig vergessen! „Verdammt!“, rief ich. „Ich wollte dieser Göre doch eine Lektion erteilen!“

Verwirrt sahen mich die anderen an. „Hä?“

„Na, die Kleine, die auf dem Baum in meinem Garten saß!“

Natürlich verstanden sie nicht, wovon ich redete. Doch anstatt es ihnen zu erklären, rannte ich nach draußen. Ich rechnete nicht wirklich damit, dass diese Göre immer noch dort saß, aber ich wollte sichergehen. Denn sollte sie da sein, würde ich sie eben jetzt zurechtstutzen.

Meine Freunde liefen mir hinterher, obwohl sie nicht so recht wussten, was ich vorhatte. Als ich über die Terrassentür in den Garten und zu besagtem Baum an der Grundstücksgrenze kam, war dort niemand mehr zu sehen.

„So ein Mist!“, ärgerte ich mich und ballte die Hände zu Fäusten.

„Was ist überhaupt los?“, fragte Simon verunsichert.

„Ach, kurz bevor ihr gekommen seid, hab ich draußen irgendein Mädchen in diesem Baum sitzen sehen“, erklärte ich und deutete zu den Ästen. „Weil das aber unser Grundstück ist, wollte ich, dass sie verschwindet. Aber sie hat sich stur gestellt, darum hatte ich vor, sie zu verjagen.“

„Tja, jetzt ist sie wohl schon weg“, merkte Fabian an.

„Wär ich nie drauf gekommen“, brummte ich.

„Aber an dem Ast da oben klebt ein Zettel“, fiel Simon auf.

Ich blickte auf. Tatsächlich, an der Stelle, an der das Mädchen vorhin gesessen hatte, befand sich nun ein kleiner roter Zettel. Eilig kletterte ich auf den Baum – kein Problem für mich, da ich als Kind in diesem Garten nichts anderes getan hatte als zu klettern – und holte das Stück Papier runter. Es war mit einem Streifen Tesafilm an der Baumrinde befestigt gewesen, nicht sehr stabil, doch es hatte gehalten.

Neugierig las ich den Text darauf durch, auch die anderen drei schauten mir über die Schulter, um auf den Zettel blicken zu können.

In ordentlicher, verschnörkelter Schrift stand dort: Ich wusste gar nicht, dass zwei Minuten so lang sind, du lahme Ente. Oder hast du dich etwa in deinem eigenen Haus verlaufen? Spuck lieber nicht mehr so große Töne und hör auf, wildfremde Leute ohne jeden Grund dumm anzureden. Idiot.

Mir klappte der Mund auf, während meine Freunde in lautes Gelächter ausbrachen. Diese miese, kleine, arrogante …

Benedikt stieß einen leisen Pfiff aus, der meinen Gedanken an die Beleidigung, die ich im Kopf hatte, unterbrach. „Ich glaube, sie meint dich damit, Juli. Du musst sie ja ganz schön genervt haben.“

„Ich sie?“, wiederholte ich aufgebracht. „Sie hat mich doch provoziert! Hat was erzählt von wegen, sie würde hier wohnen und dürfte auf dem Baum sitzen!“

„Vielleicht wohnt sie im Nachbarhaus?“, überlegte Fabian.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, unsere Nachbarn kenne ich ja, die haben nur zwei Söhne. Außerdem ist das der Garten des Hauses auf der nächsten Querstraße, und da hat nur ein Ehepaar gelebt, das vor ein paar Tagen gestorben ist.“

„Beide auf einmal?“, fragte Simon ungläubig.

„Ja, keine Ahnung, was da los war. Wir hatten nie sonderlich viel mit ihnen zu tun, die beiden haben sehr zurückgezogen gelebt.“

„Tja, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als zu warten, ob das Mädchen noch mal kommt oder nicht“, meinte Benedikt. „Dann kannst du sie fragen, wo sie wohnt. Oder du klingelst mal im Haus da hinten und erkundigst dich nach ihr.“

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Als ob mich das interessieren würde. Die kann bleiben, wo der Pfeffer wächst.“

„Da ist wohl jemand zutiefst gekränkt“, sagte Simon grinsend.

„Überhaupt nicht!“, stritt ich sofort ab. „Mir doch egal, was so eine dumme Ziege auf einen blöden Zettel schreibt!“ Ich zerknüllte das Papier in meiner Hand und warf es achtlos auf die Wiese. „Soll’s der Gärtner morgen früh in den Müll schmeißen.“

Mein bester Kumpel bemühte sich offensichtlich, nicht mehr zu lachen. „Und du kennst das Mädchen echt nicht? Komisch, dass du dich dann so aufregst.“

Böse sah ich ihn an. „Nein, ich kenne sie nicht. Und ich will sie nicht kennen. Ich hab sie nicht richtig erkannt, als ich aus dem Fenster geschaut hab. Keine Ahnung, wie sie aussieht. Das ist auch besser für sie.“

Fabian klopfte mir auf die Schulter, er grinste genauso dumm wie Simon. „Wie du meinst.“

„Themawechsel!“, forderte ich wütend. „Was machen wir jetzt?“


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