Eisige Kälte & Glühende Hitze

Um in die Geschichte von „Eisige Kälte“ und „Glühende Hitze“ einzutauchen, findet Ihr hier eine Leseprobe aus dem ersten Kapitel. Eine Szene aus „Glühende Hitze“ habe ich nicht eingefügt, weil sie leider zu viel über die Handlung vom ersten Band verraten würde. Viel Spaß und Spannung beim Lesen!

Eine Anmerkung habe ich allerdings noch: Da es in diesen Romanen um ein schwieriges Thema, nämlich häusliche Gewalt und den schweren Weg zurück ins Leben, geht, empfehle ich sie erst ab ca. 16 Jahren.


Prolog:

Bitte schau nicht her. Mach die Augen zu und denk an etwas Schönes. Ich will nicht, dass auch du diese hässliche, bösartige Welt erlebst. Versteck dich hinter mir. Und sieh weg.

Kapitel 1: Nichts außer Dunkelheit

Mit großen, angsterfüllten Augen blickte meine kleine Schwester mich an. „Geh nicht!“, flehte sie. „Lass mich nicht allein!“

Ich nahm das achtjährige Mädchen sanft in meine Arme. „Ganz ruhig, Nele. Ich bin gleich wieder da. Hab keine Angst. Warte hier und alles wird gut.“

Wir saßen nebeneinander in unserem gemeinsamen Zimmer auf meinem alten, schäbigen Bett, das direkt neben Neles stand. Eigentlich brauchte meine kleine Schwester kein eigenes Bett, sie schlief sowieso jede Nacht bei mir. Und das konnte ich ihr nicht verdenken bei den vielen Albträumen und Ängsten, die sie Nacht für Nacht auszustehen hatte.

Der Raum war nicht groß, doch ich war dankbar dafür, dass wir ihn hatten. Eine Fluchtmöglichkeit. Einen Rückzugsort. Jedenfalls tagsüber.

Die Mittagssonne schien durch das große Fenster herein und erhellte das Zimmer. Ich war gerade erst von der Schule gekommen und hatte mich auf das nun bevorstehende Wochenende gefreut. Dabei gab es überhaupt keinen Grund, sich auf irgendetwas zu freuen. Jedenfalls nicht in diesem Haus.

Nele schüttelte heftig den Kopf, ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare fielen ihr dabei ins Gesicht. „Bitte, Lara, bitte geh nicht!“

Ein lauter, hoher Schrei drang gedämpft zu uns vor. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und drückte Nele fester an mich; egal wie oft ich diese Schmerzensschreie hörte, mir drehte sich jedes Mal wieder der Magen dabei um. Und meiner kleinen Schwester ging es offensichtlich nicht anders.

„Nele, ich muss“, flüsterte ich und zog meinen MP3-Player aus der Tasche meiner abgetragenen Jeans. „Bleib in unserem Zimmer, schau aus dem Fenster und hör Musik, dann ist es ganz schnell vorbei, ja?“

Sie schniefte. „Versprochen?“

Ich strich ihr durchs Haar. „Versprochen“, antwortete ich und steckte ihr die Kopfhörer in die Ohren.

Dieser MP3-Player war mein einziger und wichtigster Besitz. Ohne ihn und die beruhigenden Lieder darauf hätte ich meine Schwester nicht vor dem bewahren können, was außerhalb dieses Zimmers vor sich ging.

Ich drehte die Lautstärke so weit auf wie möglich und drückte auf Play. Jetzt würde Nele nichts von den Geschehnissen vor dieser Zimmertür mitbekommen. Hoffentlich.

Wieder hörte ich einen Schrei, dann brüllte eine andere tiefere Stimme: „Das hast du davon, du Miststück!“

„Bitte, nein, nicht!“, wimmerte die helle Stimme wieder.

Ich schluckte schwer und ballte die Hände zu Fäusten. „Ruhe bewahren“, sagte ich mir. „Nicht ausrasten.“

Langsam stand ich vom Bett auf und drückte Neles Hand noch mal fest. Ich lächelte die Kleine aufmunternd an, ihre graugrünen Augen musterten mich besorgt. Dann ging ich zur Tür, auch wenn ich wusste, dass ich sie nicht allein lassen sollte. Aber ich konnte unmöglich nur im Zimmer warten, bis alles vorbei war.

Mit zitternden Fingern strich ich mir eine hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. Bevor ich den Raum verließ, nahm ich das Telefon, das sich auf meinem alten, viel zu niedrigen Schreibtisch befand, und wählte die Nummer vom Notarzt. Sie lag sowieso auf der Taste für die Wahlwiederholung.

Nach dem zweiten Läuten hob jemand ab. „Notrufzentrale“, meldete sich eine Frauenstimme. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Larissa Kurz“, stellte ich mich vor. „Wir brauchen dringend einen Krankenwagen in der Fichtestraße 13, bitte beeilen Sie sich.“

„Bewahren Sie Ruhe“, rasselte die Frau den Standardsatz runter. „Was ist denn genau passiert?“

Wie oft hatte ich dieses Gespräch eigentlich schon geführt? Mindestens einmal die Woche. Langsam sollten die Leute in der Notrufzentrale bei meinem Namen schon wissen, was los war.

„Etwas Schlimmes“, antwortete ich nur und legte auf.

Mehr Zeit konnte ich nicht verschwenden, im Gegenteil, ich musste vielmehr Zeit schinden, bis der Notarzt kam.

Mit leisen Schritten verließ ich das Zimmer. Nele blickte mir ängstlich nach, bis ich die Tür geschlossen hatte. Es tat richtig weh, die Kleine kurz allein lassen zu müssen, aber es ging nicht anders.

Der Flur und das Treppenhaus, vor dem ich stand, wirkten viel düsterer als das Zimmer, in dem ich bis eben noch gesessen hatte. Und die bisher gedämpften Stimmen klangen nun ganz nah. Genau genommen waren sie etwa fünf Schritte von mir entfernt.

Eine Frau, Mitte 40, mit dunkelbraunen Haaren und angstvoll aufgerissenen Augen stand auf dem Flur, direkt vor der Treppe zum Erdgeschoss. Ihr Make-up war von ihren Tränen völlig verschmiert worden, alte Prellungen zeigten sich überall in ihrem Gesicht und ihr linkes Auge war angeschwollen. Sie zitterte am ganzen Körper und vom T-Shirt, das nur knapp bis zur Jeans reichte, war der linke Ärmel abgerissen.

Ein Mann, etwa im selben Alter, hielt sie am Oberarm gepackt. Sein schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, er wirkte ungewaschen, wie immer. Wobei er manchmal erschreckend gut aussehen konnte, schließlich war er ziemlich groß, muskulös und hatte ein freundliches Lächeln. Wenn er denn lächeln wollte, was zu Hause natürlich nie der Fall war. Außerdem wusste ich, dass dieser Teufel nichts Freundliches an sich hatte.

Jetzt stand ihm sein Jähzorn ins Gesicht geschrieben und die Alkoholfahne aus seinem Mund roch ich sogar aus der Entfernung. Wobei es sowieso im ganzen Haus nach Alkohol und Nikotin stank. Schließlich tat dieser Mistkerl nichts anderes als saufen, rauchen und schlagen.

Ich seufzte leise bei dem Anblick und betrachtete traurig die Frau. Ich hasste diese Situationen. Und ich hasste es, dass sie immer öfter vorkamen.

Bevor ich mich zu Wort melden konnte, um den Mann am nächsten Schlag zu hindern, drehte er sich zu mir um. Er grinste und entblößte dabei seine gelblichen Zähne. „Engelchen, solltest du nicht lieber in dein Zimmer gehen?“

Wie ich es hasste, wenn er mich so nannte …

„Gilbert, lass Saskia los“, verlangte ich mit ruhiger Stimme. „Ich finde, für heute hast du sie genug verprügelt. Sie kann ja kaum noch stehen.“

„Halt dich da raus“, zischte er und fixierte mich wütend. Seine dunkelgrünen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Oder du bist die Nächste.“

Ich schluckte unmerklich. „Ich war ja wohl schon gestern dran“, antwortete ich bitter und blickte auf meine Arme, die von blauen Flecken bedeckt waren.

Dank Gilbert konnte ich außerhalb dieses Hauses nie kurze Hosen oder T-Shirts anziehen, ohne dass jemand die vielen Verletzungen sehen würde. Gut, jetzt im Winter wollte ich in der Schule keine kurzen Klamotten tragen, aber selbst im Sommer musste ich in Jeans und Pullover herumlaufen.

Er wandte sich wieder seiner Frau zu, mich ließ er links liegen.

Hätte Saskia dieses Schwein doch nur nie geheiratet! Aber er hatte es schlau angestellt, er hatte seine brutale Seite erst nach der Hochzeit gezeigt, vor ungefähr vier Jahren. Da hatte er seine Frau zum ersten Mal verprügelt. Und jetzt schimpfte er sich Neles und mein Stiefvater.

„Lara“, wimmerte Saskia. „Es ist schon gut … es war meine Schuld …“

Ich schnaubte verächtlich. „Was hast du denn diesmal getan? Ihm das Bier nicht schnell genug gebracht?“

Abrupt wirbelte Gilbert zu mir herum und fixierte mich. In seinem Blick lag eine kranke Mischung aus Wut und Lust, die mich innerlich erschaudern ließ und unangenehme Erinnerungen hervorrief.

Mit eiskalter Miene erwiderte ich diesen Blick, ohne mir eine Reaktion anmerken zu lassen. Denn es gab drei Dinge, die man in Gilberts Nähe auf keinen Fall tun durfte, wenn man an seinem Leben hing: Angst zeigen, nachgeben und ihm den Rücken zukehren.

Er liebte es, wenn er Saskia und mich zum Weinen brachte und er uns die Panik ansah, das hatte ich schon vor drei Jahren begriffen. Seitdem bemühte ich mich sehr darum, ihm nicht zu geben, was er wollte.

„Verschwinde, Engelchen“, befahl er in schneidendem Tonfall. „Sofort.“

„Damit du Saskia noch umbringst? Lieber nicht“, entgegnete ich. Meine Stimme klang nicht so kalt, wie sie sollte. „Dafür hänge ich doch zu sehr an ihr.“

Saskia war Neles Mutter und meine Adoptivmutter. Sie hatte mich vor über 17 Jahren adoptiert, kurz nach meiner Geburt eben. Und sie hatte mir von Anfang an gesagt, dass ich nicht ihre leibliche Tochter sei. Doch ich hatte mich bei ihr und ihrem Mann Wolfgang – Neles Vater – immer wohlgefühlt. Bis Wolfgang diesen schrecklichen Unfall gehabt hatte und gestorben war. Von da an war alles schiefgegangen.

Gilbert belächelte mich nur. „Sei ein braves Mädchen und geh in dein Zimmer. Sofort.“

Ich schüttelte den Kopf, sodass ich meine offenen Haare durcheinanderbrachte und sie mir wieder aus dem Gesicht streichen musste. „Nein. Aber bitte tu mir den Gefallen und gib mir Bescheid, bevor du Saskia das nächste Mal verprügeln willst. Dann kann ich den Notarzt rechtzeitig anrufen.“ Meine Worte klangen nicht mal sarkastisch, sondern nur verbittert. Genau wie ich mich fühlte.

Saskia hatte Gilbert vor ziemlich genau fünf Jahren kennengelernt, im Januar 2009. Die beiden hatten relativ schnell geheiratet, und Saskia hatte endlich wieder aus vollem Herzen gelacht. Ich war damals zwölf gewesen und ich hatte mich so für sie gefreut. Doch nach der Hochzeit hatte er plötzlich seinen Job bei der Schlosserfirma gekündigt, sich bei uns eingenistet und meine Mutter dazu gezwungen, ihn auszuhalten.

Wütend starrte mein Stiefvater mich an. „Du solltest dich etwas zurückhalten, wenn dir wirklich was an deiner Mutter liegt!“

Er wusste nicht, dass ich adoptiert war, und das sollte auch so bleiben. Ich wollte nicht, dass er mich allzu gut kannte. Es reichte schon völlig, was er mir antat.

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. „Ich stehe hier, weil mir etwas an ihr liegt.“

Er fuhr sich durch sein dunkles Haar. „Sie ist doch selbst schuld.“

Klar, so lief das immer ab. Er schlug sie zusammen – oder mich – und meine Adoptivmutter deckte ihn. Sie hatte ihn noch nie angezeigt und mich immer wieder dazu überredet, es auch nicht zu tun. Denn sie liebte ihn so sehr, und die ganze Schuld lag bei ihr, weil sie ihn immer wieder verärgerte. Und jedes Mal sprach Saskia davon, dass alles besser werden würde, wenn wir uns nur mehr Mühe gäben, eine richtige Familie zu sein. Wenn ich mich Gilbert gegenüber besser benehmen würde. Pah.

In fünf Monaten, im Juni, würde ich 18 werden. Dann konnte ich mit Nele von hier verschwinden. Doch bis dahin musste ich noch mitspielen, zumal meine größte Angst war, dass meine kleine Schwester in ein Kinderheim musste, sollte ich die Polizei einschalten.

Mit langsamen Schritten ging ich näher zu Saskia und Gilbert. Dabei hielt ich mich an meine dritte goldene Regel, ihm niemals den Rücken zuzukehren. Nun stand ich direkt neben den beiden. „Lass sie los“, verlangte ich wieder. „Du hast heute schon genug getan. Ihre Nase ist gebrochen, ihr Auge wird wochenlang blau sein und … ist das ein Zahn, den du ihr ausgeschlagen hast?!“ Für einen Augenblick gewann der Schock die Oberhand, doch dann riss ich mich wieder zusammen. Dieser miese Teufel …

„Weißt du was?“, fragte Gilbert beunruhigend lächelnd und verstärkte seinen Griff um Saskias Oberarm. „Du hast recht. Mit ihr bin ich fertig. Jetzt bist du dran!“

„Lass deine Finger von mir!“, schrie ich, als er seine freie Hand nach mir ausstreckte. „Du stinkender Säufer!“

Inzwischen konnte ich einfach keine Ruhe mehr bewahren. Mein Hass kroch immer wieder hoch, egal wie sehr ich versuchte, mich zusammenzureißen.

Seinetwegen ging hier alles schief. Seinetwegen bestand mein Leben nur noch darin, meine kleine Schwester vor ihm zu beschützen. Seinetwegen waren wir ständig knapp bei Kasse, denn er versoff all unser Geld und nahm nur im allergrößten Notfall einen Job an. Seinetwegen gab es bei uns kaum etwas zu essen. Seinetwegen konnte ich keine richtigen Freunde finden, weil ich alles dafür tun musste, um nicht aufzufallen. Seinetwegen lebte ich in ständiger Angst vor dem Tod und vor dem Jugendamt, denn sollte einem meiner Lehrer oder unseren Nachbarn doch mal auffallen, was hier vor sich ging, dürfte Saskia Nele und mich nicht behalten. Und ich wollte auf keinen Fall, dass meine kleine Schwester ins Heim kam. Für mich gab es sowieso kaum noch Perspektiven, aber wenigstens sie sollte ein anständiges Leben führen können.

„Du bist zu weit gegangen, Engelchen!“, brüllte Gilbert und trat noch einen Schritt auf mich zu.

Von oben blickte er auf mich herab, sein stinkender Atem streifte meine Haut. Mir drehte sich beinahe der Magen um, doch ich zwang mich, seinen Blick zu erwidern.

„Das sollte ich dir sagen!“, fauchte ich.

Dafür erntete ich eine Faust im Gesicht. So fest wie möglich biss ich mir auf die Zunge, um nicht zu schreien. Ich würde diesem Mistkerl nicht geben, was er wollte. Niemals.

Ein dumpfer Schmerz pochte in meiner linken Gesichtshälfte. Das würde ein blaues Auge geben. Mal wieder.

„Hast du genug?“, fragte er.

„Von dir?“, entgegnete ich. „Schon lange.“

Offensichtlich unterdrückte er einen Wutausbruch, stattdessen grinste er. „Ich sollte mich wohl doch mal an deiner kleinen Schwester für dein Benehmen rächen, was?“

Unwillkürlich weiteten sich meine Augen. Alles, nur das nicht. Gilbert wusste genau, dass Nele meine Schwachstelle war. Und er nutzte es schamlos aus.

Voller Hass blickte ich ihn an. „Leg dich mit jemandem in deiner Größe an!“

„In meiner Größe gibt’s hier niemanden“, lachte er.

Nur weil er mit seinen 1,90 Meter einen Kopf größer war als Saskia, und auch etwas größer als ich. Wobei ich fand, dass ich mit meinen 1,78 Metern nicht gerade klein war. Aber ein hochgewachsenes, unterernährtes Mädchen mit herausstehenden Hüft- und Rippenknochen machte ihm natürlich keine Angst.

„Das wird mich nicht aufhalten, dir ins Gesicht zu spucken“, drohte ich.

Er ließ Saskia immer noch nicht los. Hoffentlich kam der Notarzt bald …

„Das würde ich dir nicht empfehlen, Engelchen“, sagte er mit samtweicher Stimme und strich mir mit seiner freien Hand durchs Haar.

Ich unterdrückte den Brechreiz, der bei seiner Berührung in mir aufkam. Der schmale Flur wirkte in diesem Moment noch enger auf mich als sonst. „Lass Saskia endlich los!“

„Oder was?“, fragte er und fuhr mit seinen Fingerspitzen weiter über meine Wange.

Kaum merklich zuckte ich zusammen; es tat weh, als er über die Stelle strich, die er gerade erst geschlagen hatte. Auch wenn er mich nur leicht berührte, der Schlag hatte gesessen.

„Oder ich rufe die Polizei“, bluffte ich.

Seine Hand wanderte tiefer, über meinen Hals und mein Schlüsselbein. „Das wirst du nicht“, antwortete er grinsend. „Und das wissen wir beide.“

„Wenn du nicht sofort aufhörst und uns für heute in Ruhe lässt, werde ich das tun“, drohte ich unbeirrt weiter.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und bemühte mich, so still zu stehen wie eine Statue. „Egal, was Gilbert tut, keine Reaktion zeigen“, sagte ich mir und dachte an etwas Schönes. Ich dachte an Nele und daran, wie ich mit ihr draußen durch den Schnee spazierte und mit ihr einen Schneemann baute. Das sollte ich heute Nachmittag vielleicht wirklich machen.

„Ich bin aber noch nicht fertig für heute“, entgegnete er und strich über meine Brust, wo seine Hand verharrte, wie ich befürchtet hatte.

„Nimm deine Finger weg“, forderte ich.

„Vielleicht sollte ich dir einfach heute Nacht einen kleinen Besuch abstatten“, überlegte er und fixierte mich mit seinen dunkelgrünen Augen.

Ich verdrängte die Bilder, die vor meinem inneren Auge erschienen. Und ich unterdrückte die Enttäuschung darüber, dass meine Adoptivmutter kein Wort des Protests von sich gab. Gut, vielleicht war sie inzwischen auch schon halb bewusstlos, aber auch sonst nahm sie mich nie in Schutz. Sie deckte immer nur Gilbert. Weil sie ihn ja so liebte.

„Das wagst du nicht“, zischte ich. „Nicht schon wieder!“

Er grinste dreckig. „Worum wollen wir wetten?“

Ich atmete ein paarmal tief durch, dann umfasste ich sein Handgelenk und zog seine widerlichen Finger von meiner Brust weg. Doch das hätte ich besser nicht getan. Nun riss sein Geduldsfaden und sein Jähzorn flammte wieder auf.

„Ich bestimme hier, wo ich meine Hände habe! Ich allein!“, schrie er und rammte mir die Faust in die Magengrube.

Sofort würgte ich und krümmte mich. „Mist“, keuchte ich.

„So, Engelchen, jetzt bist du fällig!“, brüllte er und packte mich am Nacken.

Ich zog die Schultern hoch und warf den Kopf zurück. Gilberts Griff tat so schrecklich weh, zumal er auf ein Hämatom von vorgestern drückte. Gegen meinen Willen schrie ich auf.

„Nein, Gil, hör auf!“, flehte da eine schwache Stimme.

Überrascht blinzelte ich. Versuchte Saskia gerade wirklich, mich in Schutz zu nehmen? Das … war eine Premiere.

Auch ihr Mann starrte sie fassungslos an. „Was?!“

Saskias dunkle Augen ruhten auf ihm. „Bitte, tu ihr nicht weh!“

Tatsächlich löste sich sein Griff um meinen Nacken. „Schnauze!“, rief er und drehte sich zu ihr um.

Ich nutzte diesen wertvollen Moment, um meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen und tief durchzuatmen. Gleich müsste der Notarzt eintreffen.

Vorsichtig legte ich meine Hand in den Nacken und strich über die schmerzende Haut. Wenn es doch nur nicht so lange dauern würde, bis blaue Flecken und andere Verletzungen verheilten. Wenn ich an den gebrochenen Arm letztes Jahr dachte oder an die Schnittwunde am Unterschenkel. Ganz zu schweigen von der Brandnarbe am Oberschenkel und manch andere Sachen.

Da riss mich ein lauter Schrei aus meinen Gedanken. Gilbert hatte Saskia ins Gesicht geschlagen.

„Du gibst mir ganz bestimmt keine Befehle!“, brüllte er sie an. „Du nicht!“

„Gil, es tut mir so leid, es tut mir leid!“, wimmerte sie.

„Das sollte es auch, Miststück!“

Vor lauter Aufregung ballte ich meine zitternden Finger zu Fäusten, mit rechts klemmte ich dabei den unteren Rand meines T-Shirts ein. „Lass! Sie! Los!“, knurrte ich, erstaunt darüber, wie bedrohlich meine Stimme klang. „Sofort!“

Da grinste er mich an. „Ich soll sie loslassen?“, wiederholte er. „Gerne.“

Verdutzt musterte ich ihn. Seiner plötzlichen Zustimmung traute ich nicht über den Weg. Außerdem bedeutete sein Grinsen nie etwas Gutes.

Es ging so schnell, dass ich nichts tun konnte. Gilbert schubste Saskia mit aller Kraft von sich weg. Und sie fiel. Die Treppe runter, Stufe für Stufe, sie schrie und es polterte fürchterlich.

„Mama!“, schrie ich schockiert. Wirklich schockiert, denn ich hatte sie seit ihrer Hochzeit mit diesem Teufel nicht mehr so genannt. Seitdem war sie nur noch Saskia für mich gewesen.

Gilberts hämisches Lachen mischte sich mit dem Poltern. Ängstlich sah ich zwischen meiner Adoptivmutter und Gilbert hin und her, unschlüssig, was ich tun sollte.

Doch diese Entscheidung wurde mir von einem markerschütternden Geräusch abgenommen. Einem Knacken.

Wie hypnotisiert starrte ich die Treppe runter. Da unten im Erdgeschoss lag Saskias schlanker Körper, schlaff und bewegungslos, mit weit aufgerissenen Augen, die mich blind ansahen.

Dieses Knacken … ihr Genick … wie sie dalag …

„Tot“, echote es in meinem Kopf. „Tot, tot, tot, sie ist tot. Sie ist tot. Sie wird nie wieder aufstehen. Sie ist tot!“

„Mörder!“, schrie ich hysterisch und trommelte mit den Fäusten gegen Gilberts Brust. „Du hast sie umgebracht! Du Arschloch! Sie ist tot!“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Fassungslosigkeit in brennende Wut verwandelte. „Halt’s Maul!“, brüllte er und packte meine beiden Handgelenke.

Heftig schüttelte ich den Kopf, meine hellbraunen Haarsträhnen peitschten dem Mistkerl dabei ins Gesicht. „Nein! Das wirst du bereuen!“ Er starrte mich finster an. Blanke Verzweiflung, Hass und Trauer erfüllten mich, lähmten mich. Da spürte ich, dass mir gleich die Tränen kommen würden. Es schüttelte mich und mein ganzer Körper zitterte. Ich durfte nicht weinen! Nicht jetzt und hier, nicht vor Gilbert, der nur darauf wartete. „Ich bring dich um“, zischte ich. „Ich bring dich um, du Teufel!“

Er lachte verächtlich. „Oh nein, Engelchen. Du kannst mir gar nichts tun“, flüsterte er mir ins Ohr. „Du wirst für jede Beleidigung büßen, genau wie deine Mutter für ihr Benehmen büßen musste.“

„Sie hat dir nie was getan!“, schrie ich verzweifelt.

Er verengte seine Augen zu Schlitzen. „Das sehe ich anders.“

Voller Wut holte ich mit dem rechten Arm aus, um diesen Mistkerl zu schlagen. Doch noch in der Bewegung packte er mich und stieß mich weg, genau wie er es zuvor bei Saskia getan hatte.

Für eine Sekunde fühlte ich mich geradezu schwerelos. Aber dann fiel ich. Der Schmerz fuhr mir durch die Glieder, durch jedes einzelne. Ich wollte schreien, doch noch bevor ich das konnte, wurde mir schwarz vor Augen.

„Nele“, schoss es mir durch den Kopf. „Dieser Teufel darf Nele nichts tun!“

Aber da wurde ich schon bewusstlos.


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